RobertH.
200 Gramm sind 200 Gramm.
Das Versprechen von Edeka ist gewagt: Die Verkäuferinnen der Supermarktkette können Wurst auf das Gramm genau abwiegen - das behauptet zumindest die Werbung. Aber was passiert, wenn man das Know-how der Angestellten tatsächlich auf die Probe stellt?
Die Bedienungen an den Fleischtheken in den Supermärkten von Edeka verfügen über außerordentliche Fähigkeiten, die in einem bekannten Werbespot eindrucksvoll gezeigt und bewiesen werden. Die Trefferquote beim Abwiegen der Wurstwaren muss als geradezu sensationell eingestuft werden. Aufs Gramm genau, die volle Punktlandung an der Fleischtheke. Wer 100 Gramm Baguette-Salami bestellt, bekommt auch genau 100 Gramm - kein Gramm mehr oder weniger. Und wer 200 Gramm Kalbsleberwurst haben will, wird ebenfalls perfekt bedient. Keine lästige Nachfrage wie: "Darf's ein bisschen mehr sein?" Eine Frage, die man aus purer Höflichkeit immer mit einem "Ja" beantwortet.
Einmal zeigte die Waage in dem Werbespot 281 Gramm Mortadella an, obwohl der männliche Kunde mit einem herausfordernden Gesichtsausdruck exakt 268 Gramm bestellt hatte. Sollte die Verkäuferin also doch scheitern? Nein, in dieser Werbung niemals. Die Verkäuferin nimmt eine Scheibe von den abgewogenen 281 Gramm herunter und schenkt sie nach alter Fleischertradition der Tochter des Kunden. Prompt zeigt die Waage die gewünschten 268 Gramm an. Der Kunde ist verblüfft und schaut die blonde Bedienung bewundernd an. Die fragt obercool: "Noch einen Wunsch?"
Seit diesem Werbespot weiß ich, dass ich die Tätigkeit des Verkaufspersonals an den Fleischtheken leider jahrelang missachtet habe. Mal mehr, mal weniger - ich habe ihnen gar nicht zugetraut, aufs Gramm genau abwiegen zu können. Und deshalb nie darauf bestanden. Man will ja nicht den Laden aufhalten, und fünf Gramm mehr Kalbsleberwurst als ursprünglich eingeplant werden nicht zu einer extremen Belastung der Haushaltskasse führen. Aber genau diese Höflichkeit könnte am Ende die Fleischverkäufer vom Erreichen beruflicher Höchstleistungen abhalten. Jeder bringt nur die Leistung, die von ihm gefordert wird. Der Werbespot hat zweifellos Vorbildcharakter. Wie viele Verkäuferinnen an den Fleischtheken lauern nur darauf, endlich einmal ihr volles Können beweisen zu dürfen?
Bei meinem nächsten Einkauf will es ich wissen.
"Ja, Hauptsache 200 Gramm"
Edeka-Markt, an der Fleischtheke: der erste Versuch in meinem Konsumentenleben, aufs Gramm genau bedient zu werden. Die schwarzhaarige Verkäuferin, Anfang dreißig und betont freundlich, ist natürlich ahnungslos, als ich an der Reihe bin. Mit meiner Bestellung halte ich mich an den Werbespot: "200 Gramm Kalbsleberwurst hätte ich gern."
Sie schneidet ein Stück von der Wurst ab, die Waage zeigt 170 Gramm an.
"Da fehlen ja nur noch 30 Gramm, dann haben Sie es", mache ich ihr Mut.
Etwas genervt gibt die Verkäuferin zu bedenken: "Dann muss ich Ihnen noch so eine Scheibe dazu machen."
Ich willige ein. "Ja, Hauptsache, 200 Gramm."
Sie schneidet von dem großen Stück Kalbsleberwurst aus der Theke ein sehr kleines Stückchen ab, und zwar mit Sorgfalt. Ihr Lächeln ist verflogen, ihr Gesicht wirkt jetzt doch etwas angestrengt. 198 Gramm meldet die Waage.
"Nahe dran, aber noch nicht perfekt", lautet mein aufmunternder Kommentar.
Der Verkäuferin platzt der Kragen
"Tut mir leid, aber wie soll ich denn hier zwei Gramm dazulegen? ", lautet ihre Frage, um es dennoch zu versuchen. Das neue Stückchen Kalbsleberwurst treibt allerdings die Anzeige der Waage auf 214 Gramm. "Sind jetzt wieder 14 Gramm zu viel. Das ist ja zum Verrücktwerden ", gebe ich zu bedenken. Doch ihr Einsatz wird belohnt. Zehn Minuten nach der Bestellung erhalte ich exakt die bestellte Menge - 200 Gramm Kalbsleberwurst. Kein Gramm mehr, kein Gramm weniger.
"Super", lobe ich die Verkäuferin, um gleich hinterher meine zweite Bestellung aufzugeben: "Und dann nehme ich von der Teewurst noch mal 240 Gramm, bitte."
Da platzt der anfangs so netten Verkäuferin der Kittelkragen: "Nee, also ich mach das mit der Leberwurst. Also das... Ich habe die ganze Leberwurst zerschnitten, weil ich das so nicht hinkriege. Nee, dieses Mal nicht."
"Aber ich wollte doch nur genau 200 Gramm"
Sie verlässt die Theke, um offenbar den Chef zu suchen. Ich wechsle den Supermarkt. Noch einmal die gleiche Bestellung, vielleicht klappt es ja hier auf Anhieb. "200 Gramm Kalbsleberwurst, bitte." Diese Verkäuferin liegt nach dem ersten Schnitt bei 235 Gramm. "Soll ich was abschneiden?", fragt sie und weiß noch nicht, dass dieser Kunde der schwierigste in ihrem Arbeitsleben sein wird.
Ich versuche, etwas vorwurfsvoll zu klingen: "Ja, auf jeden Fall. Das sind ja 35 Gramm zu viel." 187 Gramm, dann 222 Gramm - sie schafft es einfach nicht. Die überflüssigen Kleinstteile der Kalbsleberwurst liegen vor ihr und lösen eine neue Besorgnis aus: "Das kann ich ja jetzt nicht mehr dran kleben. Und eine neue anschneiden..."
"Aber ich wollte doch nur genau 200 Gramm", unterstreiche ich meine Hartnäckigkeit. Ratlos blickt sie auf die 222 Gramm.
"Das sind nur noch 22 Gramm zu viel, die kriegen wir doch auch noch weg. Ich hoffe, ich bring Sie nicht durcheinander", versuche ich sie anzuspornen. Dann ist auch diese Verkäuferin offenbar bereits mit den Nerven am Ende. Sie bittet eine ältere Kollegin um Hilfe. Der hohe Verschleiß von Fachpersonal ist mir zwar einerseits peinlich, zum anderen will ich es wirklich wissen, ob da mal wieder die Werbung übertrieben hat.
"Ich fasse es echt nicht"
Wir starten also wieder bei 222 Gramm, 22 mehr als bestellt. "Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, ich bin 13 Jahre hier, aber so etwas habe ich am Tresen noch nie erlebt." Neben mir schaltet sich plötzlich eine Kundin ein: "Ich fasse es echt nicht. Sind Sie sonst auch so pedantisch?"
Ich bejahe und werde dadurch endgültig zum gemeinsamen Hassobjekt von Verkäuferin und Kundin. "Meine Kollegin ist fix und fertig. Soll ich Ihnen jetzt ein kleines Stück noch abschneiden? ", bettelt die Verkäuferin um meine Gnade. Zwecks weiterer Erforschung des Wahrheitsgehaltes von Werbeversprechen bestehe ich trotzdem darauf. Die Waage zeigt nun 203 Gramm an. "Vielleicht können jetzt auch endlich mal andere Leute bedient werden", bedrängt mich die Kundin, obwohl sie erst höchstens zehn Minuten wegen der korrekten Ausführung meiner Bestellung warten musste.
"Drei Gramm zu viel. Da müssen Sie nichts dazubezahlen", mit diesen Worten startet die Wurstfachverkäuferin einen Lockversuch. Ich mache mich weiter unbeliebt. "Es ist nicht die Menge, die ich wollte."
Verkäuferin, verzweifelt: "Ich ziehe jetzt noch das Papier ab." Ergebnis: nur noch ein Gramm zu viel. "Ein Gramm? Da will ich mal alle Fünfe gerade sein lassen", so sorge ich für kurzzeitige Entwarnung an der Fleischtheke.
Aber nur kurz, denn meine neue Bestellung schlägt hier wie eine Bombe ein: "242 Gramm Kümmelsülze."
Die Lage wird bedrohlich
Die ältere Verkäuferin verweigert die weitere Bedienung, ihre jüngere Kollegin erholt sich offenbar im Sozialraum vom Wurstverkauf unter diesen erschwerten Bedingungen. Und die Kundin, die anscheinend nicht so aufs Gramm achten muss wie ich, macht inzwischen offen Stimmung gegen mich. Kurzum: Die Lage an der Wursttheke wird bedrohlich und aussichtslos.
Eine Woche später. Die Wurst ist alle, mein Experiment aber noch nicht abgeschlossen. Wie in der Originalwerbung habe ich nun ein Kind dabei, um dem Fachpersonal die Möglichkeit zu bieten, eine Scheibe Wurst zu verschenken, damit die bestellte Menge auf das Gramm genau erreicht werden kann. Carlotta ist gerade vier Jahre alt geworden und steht auf Mortadella.
Also: "Ich hätte gern 268 Gramm Mortadella", lautet meine Bestellung wie im Werbespot. Antwort der neuen Verkäuferin nach ihrem ersten Blick auf die Waage: "Entweder 259 Gramm oder etwas mehr." - "Ja, nee. 268 Gramm genau", wiederhole ich. "Wie soll ich das denn so genau hinbekommen?", fragt sie sich und mich. "In der Werbung geht das auch", gebe ich zu bedenken. Sie schneidet ein neues Stück an. "Ach, jetzt sind es 21 Gramm zu viel." Sie schneidet wieder vom großen Stück ab, schnippelt an der Wurst herum und liegt schließlich bei 270 Gramm.
"Was wollen wir jetzt machen?"
Wenn sie dem Kind eine Scheibe reiche, werde das gewünschte Gewicht vielleicht erreicht, schlage ich ihr vor. Doch leider hat sie Pech. Die verschenkte Scheibe Mortadella drückt das Ergebnis auf der Waage auf 260 Gramm - acht Gramm zu wenig.
"Kriegen wir das noch hin?", frage ich betont vorsichtig.
Sie schneidet ein neues Stück an. Jetzt sind es wieder 21 Gramm zu viel.
"Was wollen wir jetzt machen?", will sie ausgerechnet von mir wissen und schaut dabei fragend um sich.
Wir könnten so noch Stunden vor und hinter der Wursttheke verbringen. Stattdessen ruft sie ihren Chef, der heißt Herr Raasch. Der kann es allerdings auch nicht besser, sein bestes Ergebnis sind 270 Gramm. "Ich will ja nicht mehr kaufen und bezahlen, als ich eigentlich will", erkläre ich ihm. Meinen Vorschlag, wieder eine Scheibe herunterzunehmen, befolgt er nicht. "Sagen Sie jetzt nicht, ich soll Ihnen etwas schenken. Das tue ich nämlich nicht."
Spielt er jetzt die beleidigte Leberwurst? Er schneidet, wiegt und schneidet. Zwischendurch überprüft er, ob die Anzeige der Waage überhaupt korrekt ist - sie ist es. Die zerschnippelten Wurstreste können nicht mehr verkauft werden, aber auf diese Verluste kann ich jetzt keine Rücksicht mehr nehmen.
Verkäuferin, Herr Raasch und ich blicken mit großer Anspannung auf die Waage: 268 Gramm. "Na bitte, geht doch", fasse ich zusammen. Und der Rest fürs Kind? "Nee, nee, nee", weigert sich Herr Raasch, ausgerechnet jetzt die bewährte Tradition des Fleischerhandwerks fortzusetzen. Deshalb verzichte ich auf weitere Bestellungen und dürfte damit für Erleichterung gesorgt haben.
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Das Versprechen von Edeka ist gewagt: Die Verkäuferinnen der Supermarktkette können Wurst auf das Gramm genau abwiegen - das behauptet zumindest die Werbung. Aber was passiert, wenn man das Know-how der Angestellten tatsächlich auf die Probe stellt?
Die Bedienungen an den Fleischtheken in den Supermärkten von Edeka verfügen über außerordentliche Fähigkeiten, die in einem bekannten Werbespot eindrucksvoll gezeigt und bewiesen werden. Die Trefferquote beim Abwiegen der Wurstwaren muss als geradezu sensationell eingestuft werden. Aufs Gramm genau, die volle Punktlandung an der Fleischtheke. Wer 100 Gramm Baguette-Salami bestellt, bekommt auch genau 100 Gramm - kein Gramm mehr oder weniger. Und wer 200 Gramm Kalbsleberwurst haben will, wird ebenfalls perfekt bedient. Keine lästige Nachfrage wie: "Darf's ein bisschen mehr sein?" Eine Frage, die man aus purer Höflichkeit immer mit einem "Ja" beantwortet.
Einmal zeigte die Waage in dem Werbespot 281 Gramm Mortadella an, obwohl der männliche Kunde mit einem herausfordernden Gesichtsausdruck exakt 268 Gramm bestellt hatte. Sollte die Verkäuferin also doch scheitern? Nein, in dieser Werbung niemals. Die Verkäuferin nimmt eine Scheibe von den abgewogenen 281 Gramm herunter und schenkt sie nach alter Fleischertradition der Tochter des Kunden. Prompt zeigt die Waage die gewünschten 268 Gramm an. Der Kunde ist verblüfft und schaut die blonde Bedienung bewundernd an. Die fragt obercool: "Noch einen Wunsch?"
Seit diesem Werbespot weiß ich, dass ich die Tätigkeit des Verkaufspersonals an den Fleischtheken leider jahrelang missachtet habe. Mal mehr, mal weniger - ich habe ihnen gar nicht zugetraut, aufs Gramm genau abwiegen zu können. Und deshalb nie darauf bestanden. Man will ja nicht den Laden aufhalten, und fünf Gramm mehr Kalbsleberwurst als ursprünglich eingeplant werden nicht zu einer extremen Belastung der Haushaltskasse führen. Aber genau diese Höflichkeit könnte am Ende die Fleischverkäufer vom Erreichen beruflicher Höchstleistungen abhalten. Jeder bringt nur die Leistung, die von ihm gefordert wird. Der Werbespot hat zweifellos Vorbildcharakter. Wie viele Verkäuferinnen an den Fleischtheken lauern nur darauf, endlich einmal ihr volles Können beweisen zu dürfen?
Bei meinem nächsten Einkauf will es ich wissen.
"Ja, Hauptsache 200 Gramm"
Edeka-Markt, an der Fleischtheke: der erste Versuch in meinem Konsumentenleben, aufs Gramm genau bedient zu werden. Die schwarzhaarige Verkäuferin, Anfang dreißig und betont freundlich, ist natürlich ahnungslos, als ich an der Reihe bin. Mit meiner Bestellung halte ich mich an den Werbespot: "200 Gramm Kalbsleberwurst hätte ich gern."
Sie schneidet ein Stück von der Wurst ab, die Waage zeigt 170 Gramm an.
"Da fehlen ja nur noch 30 Gramm, dann haben Sie es", mache ich ihr Mut.
Etwas genervt gibt die Verkäuferin zu bedenken: "Dann muss ich Ihnen noch so eine Scheibe dazu machen."
Ich willige ein. "Ja, Hauptsache, 200 Gramm."
Sie schneidet von dem großen Stück Kalbsleberwurst aus der Theke ein sehr kleines Stückchen ab, und zwar mit Sorgfalt. Ihr Lächeln ist verflogen, ihr Gesicht wirkt jetzt doch etwas angestrengt. 198 Gramm meldet die Waage.
"Nahe dran, aber noch nicht perfekt", lautet mein aufmunternder Kommentar.
Der Verkäuferin platzt der Kragen
"Tut mir leid, aber wie soll ich denn hier zwei Gramm dazulegen? ", lautet ihre Frage, um es dennoch zu versuchen. Das neue Stückchen Kalbsleberwurst treibt allerdings die Anzeige der Waage auf 214 Gramm. "Sind jetzt wieder 14 Gramm zu viel. Das ist ja zum Verrücktwerden ", gebe ich zu bedenken. Doch ihr Einsatz wird belohnt. Zehn Minuten nach der Bestellung erhalte ich exakt die bestellte Menge - 200 Gramm Kalbsleberwurst. Kein Gramm mehr, kein Gramm weniger.
"Super", lobe ich die Verkäuferin, um gleich hinterher meine zweite Bestellung aufzugeben: "Und dann nehme ich von der Teewurst noch mal 240 Gramm, bitte."
Da platzt der anfangs so netten Verkäuferin der Kittelkragen: "Nee, also ich mach das mit der Leberwurst. Also das... Ich habe die ganze Leberwurst zerschnitten, weil ich das so nicht hinkriege. Nee, dieses Mal nicht."
"Aber ich wollte doch nur genau 200 Gramm"
Sie verlässt die Theke, um offenbar den Chef zu suchen. Ich wechsle den Supermarkt. Noch einmal die gleiche Bestellung, vielleicht klappt es ja hier auf Anhieb. "200 Gramm Kalbsleberwurst, bitte." Diese Verkäuferin liegt nach dem ersten Schnitt bei 235 Gramm. "Soll ich was abschneiden?", fragt sie und weiß noch nicht, dass dieser Kunde der schwierigste in ihrem Arbeitsleben sein wird.
Ich versuche, etwas vorwurfsvoll zu klingen: "Ja, auf jeden Fall. Das sind ja 35 Gramm zu viel." 187 Gramm, dann 222 Gramm - sie schafft es einfach nicht. Die überflüssigen Kleinstteile der Kalbsleberwurst liegen vor ihr und lösen eine neue Besorgnis aus: "Das kann ich ja jetzt nicht mehr dran kleben. Und eine neue anschneiden..."
"Aber ich wollte doch nur genau 200 Gramm", unterstreiche ich meine Hartnäckigkeit. Ratlos blickt sie auf die 222 Gramm.
"Das sind nur noch 22 Gramm zu viel, die kriegen wir doch auch noch weg. Ich hoffe, ich bring Sie nicht durcheinander", versuche ich sie anzuspornen. Dann ist auch diese Verkäuferin offenbar bereits mit den Nerven am Ende. Sie bittet eine ältere Kollegin um Hilfe. Der hohe Verschleiß von Fachpersonal ist mir zwar einerseits peinlich, zum anderen will ich es wirklich wissen, ob da mal wieder die Werbung übertrieben hat.
"Ich fasse es echt nicht"
Wir starten also wieder bei 222 Gramm, 22 mehr als bestellt. "Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, ich bin 13 Jahre hier, aber so etwas habe ich am Tresen noch nie erlebt." Neben mir schaltet sich plötzlich eine Kundin ein: "Ich fasse es echt nicht. Sind Sie sonst auch so pedantisch?"
Ich bejahe und werde dadurch endgültig zum gemeinsamen Hassobjekt von Verkäuferin und Kundin. "Meine Kollegin ist fix und fertig. Soll ich Ihnen jetzt ein kleines Stück noch abschneiden? ", bettelt die Verkäuferin um meine Gnade. Zwecks weiterer Erforschung des Wahrheitsgehaltes von Werbeversprechen bestehe ich trotzdem darauf. Die Waage zeigt nun 203 Gramm an. "Vielleicht können jetzt auch endlich mal andere Leute bedient werden", bedrängt mich die Kundin, obwohl sie erst höchstens zehn Minuten wegen der korrekten Ausführung meiner Bestellung warten musste.
"Drei Gramm zu viel. Da müssen Sie nichts dazubezahlen", mit diesen Worten startet die Wurstfachverkäuferin einen Lockversuch. Ich mache mich weiter unbeliebt. "Es ist nicht die Menge, die ich wollte."
Verkäuferin, verzweifelt: "Ich ziehe jetzt noch das Papier ab." Ergebnis: nur noch ein Gramm zu viel. "Ein Gramm? Da will ich mal alle Fünfe gerade sein lassen", so sorge ich für kurzzeitige Entwarnung an der Fleischtheke.
Aber nur kurz, denn meine neue Bestellung schlägt hier wie eine Bombe ein: "242 Gramm Kümmelsülze."
Die Lage wird bedrohlich
Die ältere Verkäuferin verweigert die weitere Bedienung, ihre jüngere Kollegin erholt sich offenbar im Sozialraum vom Wurstverkauf unter diesen erschwerten Bedingungen. Und die Kundin, die anscheinend nicht so aufs Gramm achten muss wie ich, macht inzwischen offen Stimmung gegen mich. Kurzum: Die Lage an der Wursttheke wird bedrohlich und aussichtslos.
Eine Woche später. Die Wurst ist alle, mein Experiment aber noch nicht abgeschlossen. Wie in der Originalwerbung habe ich nun ein Kind dabei, um dem Fachpersonal die Möglichkeit zu bieten, eine Scheibe Wurst zu verschenken, damit die bestellte Menge auf das Gramm genau erreicht werden kann. Carlotta ist gerade vier Jahre alt geworden und steht auf Mortadella.
Also: "Ich hätte gern 268 Gramm Mortadella", lautet meine Bestellung wie im Werbespot. Antwort der neuen Verkäuferin nach ihrem ersten Blick auf die Waage: "Entweder 259 Gramm oder etwas mehr." - "Ja, nee. 268 Gramm genau", wiederhole ich. "Wie soll ich das denn so genau hinbekommen?", fragt sie sich und mich. "In der Werbung geht das auch", gebe ich zu bedenken. Sie schneidet ein neues Stück an. "Ach, jetzt sind es 21 Gramm zu viel." Sie schneidet wieder vom großen Stück ab, schnippelt an der Wurst herum und liegt schließlich bei 270 Gramm.
"Was wollen wir jetzt machen?"
Wenn sie dem Kind eine Scheibe reiche, werde das gewünschte Gewicht vielleicht erreicht, schlage ich ihr vor. Doch leider hat sie Pech. Die verschenkte Scheibe Mortadella drückt das Ergebnis auf der Waage auf 260 Gramm - acht Gramm zu wenig.
"Kriegen wir das noch hin?", frage ich betont vorsichtig.
Sie schneidet ein neues Stück an. Jetzt sind es wieder 21 Gramm zu viel.
"Was wollen wir jetzt machen?", will sie ausgerechnet von mir wissen und schaut dabei fragend um sich.
Wir könnten so noch Stunden vor und hinter der Wursttheke verbringen. Stattdessen ruft sie ihren Chef, der heißt Herr Raasch. Der kann es allerdings auch nicht besser, sein bestes Ergebnis sind 270 Gramm. "Ich will ja nicht mehr kaufen und bezahlen, als ich eigentlich will", erkläre ich ihm. Meinen Vorschlag, wieder eine Scheibe herunterzunehmen, befolgt er nicht. "Sagen Sie jetzt nicht, ich soll Ihnen etwas schenken. Das tue ich nämlich nicht."
Spielt er jetzt die beleidigte Leberwurst? Er schneidet, wiegt und schneidet. Zwischendurch überprüft er, ob die Anzeige der Waage überhaupt korrekt ist - sie ist es. Die zerschnippelten Wurstreste können nicht mehr verkauft werden, aber auf diese Verluste kann ich jetzt keine Rücksicht mehr nehmen.
Verkäuferin, Herr Raasch und ich blicken mit großer Anspannung auf die Waage: 268 Gramm. "Na bitte, geht doch", fasse ich zusammen. Und der Rest fürs Kind? "Nee, nee, nee", weigert sich Herr Raasch, ausgerechnet jetzt die bewährte Tradition des Fleischerhandwerks fortzusetzen. Deshalb verzichte ich auf weitere Bestellungen und dürfte damit für Erleichterung gesorgt haben.
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